Weil sie für ihre Tochter Mareike die bestmögliche Betreuung wollen, geben ihre Eltern sie in eine kirchliche Einrichtung für Menschen mit Behinderung. Was ihrem Kind dort angetan wird, erfahren sie erst Jahre später.
ZEITmagazin Nr. 19/2023, mit Lena Schnabl
Mareike ist eine kräftige junge Frau mit kurzen Haaren und grauen, eng stehenden Augen. Am Ende eines langen Wochenendes sitzt sie auf dem Sofa ihrer Eltern in einem ruhigen Vorort von Detmold. Mareike hat ihre Jacke an.
„Ich will nach Hause“, sagt die 34-Jährige und meint damit das Wohnheim für Menschen mit geistiger Behinderung, in dem sie lebt.
Ihre Mutter mustert sie. „Du siehst müde aus.“
„Ja, bin ich auch“, antwortet Mareike und fängt an zu weinen. „Ich will nach Hause!“
Mareike hat eine leichte Intelligenzminderung und ist verhaltensauffällig. Sie kann in einem Moment lebenslustig sein, wild tanzen und laut singen, und im nächsten sehr traurig oder wütend sein. Bevor sie losfahren, putzt ihr die Mutter noch die Zähne. Mareike nimmt nichts mit, sie hat alles, was sie braucht, an beiden Orten, im Wohnheim und im Elternhaus. „Ich habe zwei Zuhause“, sagte sie im Gespräch einmal lächelnd. Jetzt aber stößt sie grob das Gartentor auf, läuft zum Auto vor und setzt sich ungeduldig auf den Beifahrersitz. Der Vater verriegelt die Türen, bevor er losfährt. Die Mutter sitzt auf der Rückbank und hält Mareikes Tablettenbox in der Hand.